ACHTUNG: Anschliesend findet Ihr den Sozialpolitischen Einstieg von Michael Bättig (ALSO)

Bildung ohne Ausgrenzung von Gernot Koch

Eine Gesellschaft, die sich auf eine dauerhafte Massenarbeitslosigkeit eingestellt hat, die große Teile der Langzeitarbeitslosen als eigentlich „überflüssig“ definiert – wie sonst könnte ein amtierender Wirtschaftsminister von ihnen als „Schmarotzern“ und „Parasiten“ sprechen – schafft sich auch ihre Ausbildungsgänge für die „Überflüssigen“: Die Hauptschulen und zum Teil auch die Förderschulen bilden diejenigen aus, die zu großen Teilen ohne Chance auf eine qualifizierte Berufsausbildung bleiben, die häufig direkt nach der Schulpflicht in der Arbeitslosigkeit landen und kaum eine Chance haben, jemals einen längerfristigen Arbeitsplatz zu finden, dessen Entlohnung zu einem Leben oberhalb der Armutsgrenze ausreicht. Da ohnehin die Ausbildung immer unverschleierter an den Verwertungsinteressen des Kapitals, an dessen Anforderungen für die Qualifizierung der Arbeitskraft, ausgerichtet ist, soll sie für die „Überflüssigen“ nicht mit Allgemeinbildung überfrachtet werden, sondern vermehrte Praktika in Betrieben sollen diejenigen ausfiltern, die dem Kapital noch als Arbeitskräfte oder als Nachwuchs für eine Reservearmee, die je nach Bedarf in die Produktion einbezogen oder wieder rausgeworfen wird, dienen. Ungeachtet dessen soll aber die Pädagogik in den Hauptschulen nicht abgeschafft werden: Relativ kleine Klassen und vermehrte Einstellung von SozialpädagogInnen belegen das. Sie sollen aber weniger eine gute Ausbildung gewährleisten als vielmehr die SchülerInnen befrieden. Brennende Barrikaden wie jüngst in Frankreich sind auch nicht im Interesse des Kapitals. Die seit langem von Bildungsreformern aufgestellte und nach den Ergebnissen der Pisa-Studie wieder aktualisierte Forderung nach Chancengleichheit wird an dieser Misere nicht grundlegend etwas ändern können: Chancengleichheit beim Finden eines Ausbildungs- oder Arbeitsplatzes ist immer auch Chancengleichheit beim Verlieren in der Konkurrenz. Für eine linke Bildungspolitik kann daher nicht die Gleichheit der Chancen im Verwertungsprozess Leitlinie sein; denn wir wollen eine Ausbildung ohne Verlierer, ohne Ausgrenzung, eine Ausbildung, die die SchülerInnen befähigt, gleichberechtigt an der gesellschaftlichen Produktion teilzuhaben, gleichberechtigt in der Gesellschaft zu leben und sie zu gestalten. Dieses hohe Ideal kann in der Kommunalpolitik aber nur die Richtung vorgeben; denn die Bildungspolitik wird vom Land und immer mehr auch vom Bund gestaltet. Die Kommune ist für die sächliche Ausstattung der Schulen zuständig. Für die vorschulische Ausbildung in den Kindertagesstätten sind die Kommunen – noch – weitgehend zuständig, und ihre Bedeutung wird zunehmen, da von allen politischen und gesellschaftlichen Richtungen eine frühere Ausschöpfung der Begabungsreserven gefordert wird. Hier findet jetzt schon die vorschulische Sprachförderung statt, durchgeführt von GrundschullehrerInnen, in der Regel aus den Schulen im Einzugsbereich der Kindertagesstätten. Von der Stadt Oldenburg fordern wir, dass sie allen Kindern den Besuch des Kindergartens ermöglicht. Da die vorschulische Erziehung mit der Sprachförderung bereits Einzug in die Kindertagesstätten genommen hat, muss die Stadt offensiv darauf hinwirken, dass alle Kinder auch das Angebot zum Besuch der Kindertagesstätte wahrnehmen, zumindest ab dem Zeitpunkt – jetzt ein Jahr vor Beginn der Schulpflicht – ab dem in den Kitas schon Teile des allgemeine Bildungsauftrag des Staates durchgeführt werden . Solange die Kosten für den Besuch der Kindertagesstätte nicht von anderer Stelle übernommen werden, setzen wir uns dafür ein, dass die Stadt die Kosten übernimmt: Kostenloser Besuch der Kindertagesstätten im letzten Jahr vor Beginn der Schulpflicht. Bis das durchgesetzt ist, unterstützen wir alle Bestrebungen, die den Besuch der Kindertagesstätte zumindest für Kinder, deren Eltern ein geringes Einkommen haben, kostenlos machen wollen. Für diese Elterngruppe muss auch vorher der Besuch der Kindertagesstätte für ihre Kinder kostenlos sein. Solange die Kostenfreiheit nicht für alle durchgesetzt ist, fordern wir

Staffelung der Beiträge für die Kindertagesstätten nach dem Einkommen der Eltern. Auch in Oldenburg werden in den kommenden Jahren die SchülerInnenzahlen zurückgehen. Für die Grundschulen bietet sich damit die Chance, die teilweise bedrückende räumliche Enge zu entschärfen, vielleicht sogar Fachunterrichtsräume oder Räume für Arbeit in kleinen Gruppen bereit zu stellen. Auf keinen Fall dürfen unter dem Vorwand der knappen Finanzen Grundschulen geschlossen werden, auch deswegen schon nicht, damit das wohnortnahe Schulangebot bestehen bleibt. Auch bei zurückgehender Schülerrinnenzahl keine Schließung von bestehenden Grundschulen. Da Ganztagsschulen am ehesten geeignet sind, die Ausgrenzung von SchülerInnen zu verhindern, streben wir für die Grundschulen und die anderen allgemeinbildenden Schulen an, dass sie im Ganztagsbetrieb durchgeführt werden. Dafür muss sich die Stadt beim Land, das für die Genehmigung und die personelle Ausstattung zuständig ist, einsetzen. Solange Halbtagsschulen bestehen, ist die Stadt dafür zuständig, dass die Kinder nach der Schule in einem Hort betreut werden können. Daher fordern wir von der Stadt:

Jedes Kind, das einen Hort besuchen möchte, bzw. dessen Eltern das wollen, muss die Möglichkeit dazu haben. Neben der Bereitstellung von Hortplätzen ist dazu eine Beitragsregelung zu schaffen, wie wir sie schon für die Kindergärten dargestellt haben: Kostenloser Besuch des Hortes zumindest für die Kinder von Eltern mit geringem Einkommen. Staffelung der Beiträge nach Einkommen. Wir treten dafür ein, dass der Besuch der Schule kostenlos ist. Wir lehnen es ab, dass versucht wird, immer mehr offene oder versteckte Kosten für den Schulbesuch einzuführen: Kosten für Schulbücher durch die Aufhebung der Lernmittelfreiheit, Kopierkosten, Kosten für Verbrauchsmaterial, für Schwimmunterricht, für Klassenfahrten, für Arbeitsgemeinschaften, für Theater- oder Kinobesuche. So lange Kosten für den Besuch der Schule erhoben werden, muss die Stadt für Kinder von Eltern mit geringem Einkommen diese Kosten ohne Schikanen und übertriebene Bürokratisierung übernehmen. Ausgrenzung von Kindern mit Behinderungen aus der Regelschule lehnen wir ab. Wir treten dafür ein, dass die Stadt alle Angebote des Landes zur Einrichtung von Integrationsklassen nutzt und dass sie dafür eintritt, diese Angebote erheblich auszuweiten, bis die gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderungen vollständig durchgesetzt ist. Nach der Abschaffung der Orientierungsstufe erfolgt die Aufspaltung der SchülerInnen in die sogenannten weiterführenden Schulen. Für viele Kinder ergibt sich da schon im Alter von 10 Jahren mit der „Hauptschulempfehlung“ eine große Gefahr zur Ausgrenzung aus einer durchschnittlichen gesellschaftlichen Ausbildung. Wir treten daher dafür ein, dass die Stadt für alle Kinder, die nicht schon in diesem Alter auf einen Ausbildungsgang festgelegt werden sollen und daher eine IGS besuchen sollen, genügend Plätze dafür bereit stellt.

Jede SchülerIn, die einen Platz an der IGS haben möchte, soll einen bekommen können. Wenn das Land seinem Bildungsauftrag nicht nachkommt und nicht dafür sorgt, dass insbesondere in den sozialen Brennpunkten der frühzeitigen Ausgrenzung durch „Schulversagen“ entgegenwirkt, muss die Stadt mit geeigneten Maßnahmen eingreifen. Das kann z.B. durch die Einstellung von SozialpädagogInnen oder durch Angebote zur Hausaufgabenbetreuung oder kostenloser Nachhilfe geschehen. Dazu können auch die Jugendfreizeitstätten noch viel mehr als bislang beitragen. Die Stadt muss dafür eintreten, dass von der ARGE ausreichend Angebote für Jugendliche ohne Schulabschluss und ohne Berufsausbildung vorgehalten werden, damit möglichst alle eine abgeschlossene Berufsausbildung erhalten.

Sozialpolitischer Einstieg von Michael Bättig (ALSO)

Gemeinwohl vor Eigennutz – Für einen neuen Bürgervertrag auf kommunaler Ebene –

Einleitung Die Stadt Oldenburg ist – wie fast alle Städte in Deutschland – verschuldet. Aber die Entwicklung der städtischen Finanzen ist kein Schicksal. Sie ist Ergeb-nis von politischen Entscheidungen. Die Schröder-Regierung hat genau wie die Kohl-Regierung vorher entschieden, dass die Unternehmen noch weniger Steu-ern zahlen müssen. In allen öffentlichen Haushalten sind dadurch neue Löcher entstanden. Deshalb soll der Staat die Ausgaben senken. Es gibt weniger Bauauf-träge, es werden Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst abgebaut, es werden soziale Leistungen gekürzt und gestrichen. An die Stelle staatlicher Leistungen, die bis-her aus dem allgemeinen Steueraufkommen bezahlt wurden, sollen private Un-ternehmen treten. Aber ihre Angebote müssen auch privat von den Bürgern be-zahlt werden – und wer dafür kein Geld hat, hat Pech gehabt. Das ist bewusste Politik. Sie behauptet, dass der Staat sich so weit wie möglich aus allen Bereichen zurückziehen muss. Sie behauptet, dass die freie Marktwirt-schaft die Bedürfnisse der Menschen viel effektiver befriedigen kann. Sie be-hauptet, dass staatliche Regulierungen des Arbeitsmarktes Schuld an der Arbeits-losigkeit sind. Diese Behauptungen hatten in den letzten zwanzig Jahren unter den Schlagwor-ten „Internationale Wettbewerbsfähigkeit“ und „Globalisierung“ weltweit Gele-genheit, sich zu bewähren. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, der Abstand von wenigen Reichen zu vielen armen Menschen weitet sich aus, Rohstoffverbrauch und Klimaänderungen steuern auf eine globale Ka-tastrophe zu. Selbst ein kompletter Rückzug des Staates, weiterer Lohnverzicht und die Selbst-auflösung der Gewerkschaften würden das marktwirtschaftliche System nur noch weiter in die Krise treiben, und das zeigt die Hilflosigkeit der Politik, mit ihren sogenannten Reformen der unersättlichen Gier des Kapitals nach immer neuen Ausbeutungs- und Absatzmärkten hinterher zu eifern. Auf drei Ebenen zeichnen sich katastrophale Grenzen der Marktwirtschaft ab, wenn dieser Weg weiter beschritten wird: 1. Der innere Zwang zum Wachstum zerstört die ökologischen Grundlagen unseres Planeten. 2. Die globalisierte Konkurrenz der Banken und Konzerne macht über Rationa-lisierungen immer mehr Menschen überflüssig für ihren Verwertungsprozess. Wachsender Hunger, Elend, Seuchen und Kriege sind die Folge. 3. Der innere Zwang zur Verbilligung menschlicher Arbeit unterhöhlt die zah-lungsfähige Nachfrage, die für den Verkauf immer neuer Produkte und damit die Realisierung des Profits notwendig ist. Und wenn auch die Werbung uns täglich anderes einhämmern will: Die Men-schen in den Industrienationen sind des unendlichen Konsumterrors satt und ü-berdrüssig. Wir brauchen keine neuen Konsumgüter und überflüssigen Produkte. Aus allen Ecken und Enden schreit dagegen das Bedürfnis nach Sinn, Geborgen-heit, Identität, Zusammengehörigkeit, gesellschaftlicher Anerkennung und menschlichen Werten. All die Kreativität, die Produktivität, die unendlichen Fä-higkeiten der Menschen – sollen sie weiterhin und ausschließlich nur für einen einzigen Sinn und Zweck verschwendet werden: wie man anderen immer wieder was Neues verkaufen kann? Gesellschaft, Allgemeinwohl, Gemeinnutz, Solidarität, Gerechtigkeit – Prinzi-pien, die das menschliche Zusammenleben in Gemeinschaften überhaupt mög-lich, erträglich und erstrebenswert machen, werden dem kurzfristigen Profitden-ken mächtiger Konzerne geopfert. Individualismus, Eigennutz, Macht- und Geldgier sollen das Handeln der Menschen bestimmen, während gleichzeitig das Gejammer über soziale Kälte, steigende Kriminalität und den Verfall der Sitten und Werte anhebt. Wer Menschen nur an ihrer ökonomischen Verwertbarkeit misst, wer alles nur nach Kosten und Nutzen kalkuliert, wem das Leben nur noch Kaufen und Ver-kaufen bedeutet, wessen einziger Wert nur eigennütziger Gewinn ist und wer Millionen Menschen, die dabei nicht mithalten können, dürfen oder wollen, nur noch als Kostenfaktoren und überflüssig betrachten kann, der darf sich nicht wundern, wenn gegen diese geballte Ignoranz mit unkalkulierbarer Gewalt zu-rück geschlagen wird. Aber wie ferngesteuert und gleichgeschaltet halten SPD, CDU, FDP und Grüne an den alten Konzepten fest, und ihre einheitliche Antwort auf alle Vorschläge, die Politik anders zu gestalten, lautet: Wir haben kein Geld, wir müssen sparen. Ihr politisches Konzept ist mit drei Begriffen hinreichend zusammengefasst: Per-sonalabbau – Kostensenkung – Privatisierung: Diese drei Begriffe beherrschen – auch in Oldenburg – die öffentliche Auseinandersetzung. Personalabbau in der Verwaltung, Kostensenkung vor allem im sozialen-, kulturellen- und Bildungsbe-reich, Privatisierung von kommunalen Dienstleistungen, soweit irgend möglich. Es ist keine besondere Leistung, kein Verdienst und auch keine hervorzuhebende persönliche Fähigkeit, einen kommunalen Haushalt tendenziell auf seine gesetz-lichen Pflichtleistungen zusammen zu streichen, Investitionen vor allem für Ge-schäftsleute und kaufkräftige Menschen voranzutreiben und kommunale Einrich-tungen zu privatisieren. Das ist im Gegenteil genau das, was fast alle Parteien in fast allen Städten in Deutschland zur Zeit tun. Sie schwimmen mit. Sie führen nur aus, was die mächtigen Unternehmen von ihnen verlangen. Sie stellen sich be-dingungslos auf die Seite der Macht, streichen und kürzen bei den Schwächsten der Gesellschaft und investieren für die Starken. Es ist billig, mit den Wölfen zu heulen. Politische Phantasie, Kreativität, persönlicher Einsatz und Mut zum Wi-derstand dagegen wären erforderlich, wenn man gerade jetzt die soziale Infra-struktur und unabhängige Projekte erhalten und verteidigen wollte. Aber wenn man die öffentlichen Diskussionen verfolgt, könnte man den Ein-druck bekommen, in Oldenburg ginge es um kaum etwas anderes als Einkaufs-zentren, Erneuerung der Fußgängerzone, Kaufkraft und Kapital. Eine echte Auseinandersetzung darüber, wie die alltäglichen Lebensbedingungen in der Kommune für die Menschen – und nicht nur für kaufkräftige Konsumen-ten – gestaltet werden sollen, gibt es kaum. Bürgerinitiativen für basisdemokrati-sche Entscheidungen – Huntebad, ECE-Einkaufszentrum – werden mit formalju-ristischen Entscheidungen abgebügelt. Die Lebensbedingungen ganzer Bevölkerungsgruppen kommen in der politi-schen Auseinandersetzung so gut wie nicht vor, wenn sie sich nicht vehement selbst zu Wort melden. Menschen mit geringem Einkommen, Arbeitslose, Flüchtlinge, Alleinerziehende, Alte, Behinderte, Kranke – sie alle zusammen bilden die Mehrheit der Bevölkerung, aber ihre Bedürfnisse, Ängste und Sorgen spielen in der Politik kaum eine Rolle. Nur als Zielgruppe weiterer Einschrän-kungen und Kürzungen stehen sie immer an erster Stelle.

Ein neuer Bürgervertrag auf kommunaler Ebene

Wir streben ein gerechtes und solidarisches Zusammenleben aller Menschen in einer Gesellschaft an, in der die Menschen – und nicht der Profit – darüber bestimmen, was, wie viel und unter welchen Bedingungen produziert wird. Als Schritte auf diesem Weg unterstützen wir die zentralen Forderungen der bun-desweiten Erwerbslosen- und Sozialforenbewegung: · Verfügung der Allgemeinheit über die öffentlichen Güter · Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden/Woche bei vollem Lohnausgleich · Mindestlohn von 1.400 Euro im Monat · Bedingungsloses Grundeinkommen für alle Menschen, die hier leben – bis dahin: Erhöhung der Alg-II-Regelleistung auf 500 Euro im Monat

Wir wollen einen neuen Bürgervertrag, dessen Ausgestaltung bereits hier auf kommunaler Ebene begonnen werden kann. In diesem Vertrag sollen sich alle Bürgerinnen und Bürger verpflichten, gesellschaftliche Bedingungen zu schaffen, in denen alle Menschen eine vernünftige, existenzsichernde und ausfüllende Ar-beit verrichten können. Solange diese Bedingungen nicht verwirklicht sind, soll jeder Mensch ein bedingungsloses Grundeinkommen erhalten, das dem gesell-schaftlichen Reichtum angemessen ist und ein menschwürdiges Leben ermög-licht.

I. Sozial- und Arbeitsmarktpolitik 6,6 Millionen Menschen in 3,7 Millionen Bedarfsgemeinschaften müssen in Deutschland von Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld leben. Arbeitslosengeld II bedeutet zu wenig Geld, unwürdige Behandlung und gesell-schaftliche Ausgrenzung. Menschenwürde, das Recht auf Eigentum, die Unversehrtheit von Wohnung und Privatsphäre – Grund- und Menschenrechte der Betroffenen werden missachtet für ein paar Euro Einsparungen und die Bereinigung der Statistik; schwerwie-gende verfassungsrechtliche Bedenken namhafter Juristen gegen viele Bestim-mungen bei Hartz IV werden ignoriert, und es wird einfach immer weiter ge-macht. Allein die Form der Alg-II-Bescheide verletzt die einfachsten Grundsätze demo-kratischen und transparenten Verwaltungshandelns: Ohne Erklärung und Erläute-rungen, ohne Möglichkeit nachzurechnen oder zu kontrollieren, werden den Be-troffenen unverständliche Zahlentabellen hingeworfen wie den Tieren das Futter: „Friss oder stirb“! Dabei geht es um die Existenzgrundlage der Menschen, es geht darum, wieviel Miete die Wohnung kosten darf, wieviel Wert das Auto ha-ben darf, wie hoch die Alterssicherung sein darf, wieviel Einkommen vom Job auf das Alg-II angerechnet wird, wieviel der Partner verdienen darf – Es geht um eine staatliche Definition dessen, wie für Millionen von Men-schen die Teilhabe an dieser Gesellschaft aussehen soll. Wie diese Auseinandersetzungen weiter geht, ist ungewiss, denn es handelt sich um ein neues Recht, einen neuen Umgang mit Arbeitslosen, eine neue gesell-schaftliche Situation. Ob dieses Gesetz bleibt und wie es ausgestaltet wird, dar-über wird vor allem in der gesellschaftlichen Praxis hier vor Ort in der Kommune entschieden.

„Eingliederungsvereinbarung“ In Oldenburg müssen mehr als 20.000 Menschen in mehr als 9.000 Bedarfsge-meinschaften von „Hartz IV“ leben, von Arbeitslosengeld II und Sozialgeld, der sogenannten „Grundsicherung für Erwerbsfähige“ – 20.000 Einwohner von gut 150.000 Einwohnern. Darunter befinden sich rund 4.500 Kinder unter 15 Jahren – das sind mehr als 20 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren in Oldenburg. „Es ist heute überhaupt noch nicht abzusehen, was es für ein Gemeinwesen be-deutet, wenn ein Drittel seiner Kinder auf einem Einkommensniveau leben muss,das es faktisch von ganz alltäglichen, normalen gesellschaftlichen Vollzü-gen ausschließt, auf einem Einkommensniveau, das keinen Musikunterricht, kei-nen Sportverein, keinen Zoobesuch, keinen Computerkurs und nicht einmal Nachhilfeunterricht zulässt, wenn dieser nötig sein sollte. Es ist nicht absehbar, was es für die bundesrepublikanische Gesellschaft als ganze bedeuten sollte, wenn tatsächlich jedes 7. Kind über längere Zeit in Einkommensarmut verbleiben sollte.“ (Dr. Ulrich Schneider: Begleitwort zur Studie „Zu wenig für zu viele“. Kinder und Hartz IV: Eine erste Bilanz der Auswirkungen des SGB II, Expertise von Dr. Rudolf Martens, Berlin, 24. August 2005.) Wir schlagen eine „Eingliederungsvereinbarung“ vor, die diesen Namen verdient hat, anstelle der repressiven Zwangsvereinbarung, die für Alg-II-Bezieher vorge-sehen ist. Unser Vorschlag für einen neuen Bürgervertrag auf kommunaler Ebene lautet für den Bereich Sozial- und Arbeitsmarktpolitik: Alle beteiligten Ämter, Behörden, Institutionen und Menschen versuchen gemeinsam, die Krise der Erwerbsarbeit nicht auf dem Rücken der Betrof-fenen auszutragen und gleichzeitig die soziale und kulturelle Infrastruktur der Stadt Oldenburg zu erhalten und auszubauen. Dazu werden aktiv alle Spielräume genutzt, die auf regionaler und kommunaler Ebene vorhanden sind.

Wir sehen drei wesentliche Bereiche, auf kommunaler Ebene zu handeln:

1. Eine neue Form der Sozialpolitik und Arbeitsverwaltung Hier geht es ganz allgemein um den Umgang mit Menschen in Ämtern und Be-hörden, aber auch um Entscheidungsspielräume, die von kommunalen Entschei-dungsträgern wie der Agentur für Arbeit Oldenburg, der ARGE Oldenburg, der Stadtverwaltung, dem Sozialamt, dem Wohngeldamt, der Kindergeldkasse usw. wahrgenommen werden können.

Wir schlagen im einzelnen vor: · Offensive Aufklärung und Beratung über die Rechte und Ansprüche der Be-troffenen durch Ämter und Behörden und eine freundliche und menschen-würdige Behandlung · Keine Zwangsumzüge wegen Hartz IV · Großzügige Auslegung der Begriffe „angemessene Miete“ und „angemesse-nes Auto“ · Nichtberücksichtigung von Altersvorsorge beim anrechenbaren Vermögen · Freie Wahl von Wohn- und Lebensgemeinschaften ohne Unterhaltspflicht, Kontrolle und Schikane · Abschaffung des Schnüffeldienstes der ARGE · Neues Alg-II-Antragsformular auf Grundlage der Kritik der Datenschützer · Neues, verständliches und nachvollziehbares Formular für Alg-II-Bescheide

2. Ein kommunales Beschäftigungsprogramm In den letzten 14 Jahren wurde der Personalbestand des öffentlichen Dienstes durch Kürzung der Stellenpläne, durch Leistungsverdichtung und durch Privati-sierungen bundesweit um fast zwei Millionen Personen reduziert. Die Kommu-nen verloren fast 600.000 Stellen. Allein der Anteil der Gemeindearbeiter wurde von 660.200 auf 324.900 mehr als halbiert. Planstellen bei der Stadt Oldenburg sind in den vergangenen zehn bis zwölf Jah-ren abgebaut worden: · bei den Beamten um rund 9 Prozent, · bei den Angestellten um rund 11 Prozent · bei den Arbeitern um rund 20 Prozent. In den einzelnen Bereichen: · an den Schulen minus 15 Prozent, · im Sport- und Bäderbereich minus 38 Prozent , · im Tiefbauamt minus 11 Prozent, · beim Abfallwirtschaftsbetrieb minus 13 Prozent, · beim Grünflächenamt minus 20 Prozent Inzwischen hat die Stadt Oldenburg unter den niedersächsischen Städten die ge-ringsten Personalkosten. Auch im Bereich der bereinigten Ausgaben des Ge-samthaushaltes schneidet Oldenburg besser ab als die anderen Städte. Bei den sozialen Leistungen sowie Verwaltungs- und betriebskosten liegt Oldenburg an zweiter Stelle. Hierfür wird nur in Wolfsburg und Hannover weniger ausgegeben. Der weiterhin akute Personalabbau in den Kommunen und die Unterfinanzierung für die bestehenden und wachsenden Aufgaben verführt Kommunen zum Einsatz von Ein-Euro-Jobs für Pflichtaufgaben der öffentlichen Hand. Arbeitslose sollen Klassenzimmer streichen, Schulen reparieren, Grünflächen pflegen, Schulhöfe pflastern und hauswirtschaftlich in Kindertagesstätten arbeiten – und das alles für 1 Euro und 10 Cent pro Stunde.

Wir schlagen im einzelnen vor: · Die ARGE Oldenburg verzichtet auf die Einrichtung von 1-Euro-Jobs. An-stelle dessen werden sozialversicherungspflichtige und tariforientierte Be-schäftigungsverhältnisse sowie sinnvolle Qualifizierungsmaßnahmen insbe-sondere für Jugendliche angeboten, die mindestens ein Jahr dauern, damit die Betroffenen einen neuen Anspruch auf Alg I erwerben können. · Die Vergabe und die Betreuung sollte durch ein kommunales Gremium er-folgen, in dem auch freie Träger aus dem sozialen, kulturellen und Bildungsbereich vertreten sind. · Dieses kommunale Beschäftigungsprogramm sollte vorrangig dem Erhalt und dem Ausbau der sozialen und kulturellen Infrastruktur der Stadt Olden-burg dienen. Dazu könnten auch Gemeinschaftseinrichtungen wie Kinder-betreuung, Reparatur- und Werkzeugbörsen, Gemeinschaftsküchen, generati-onenübergreifende Wohnprojekte, Gesundheitsläden u.ä. gehören. · Bei der Vergabe öffentlicher Aufträge werden soziale und arbeitsrechtliche Standards gegenüber Dritten entwickelt, die der vorrangigen Beschäftigung von Arbeitslosen und der Garantie existenzsichernder Einkommen dienen.

3. Den Erhalt und Ausbau der sozialen und kulturellen Infrastruktur Hier ginge es darum, den realen Lebenslagen vieler Bürger in Oldenburg gerecht zu werden und sie nicht nur nach ihrer Kaufkraft als Konsumenten zu bewerten. Arbeitslose, Alleinerziehende, Alte und Kranke können durch eine vernünftige und nachhaltige Politik auch auf kommunaler Ebene in ihren Bedürfnissen und Interessen unterstützt werden. Andere Städte machen es mit Modellprojekten z.B. zum ökologischen und generationenübergreifenden Wohnen und Leben vor. Statt die weitere Zersiedlung der Stadt mit Einfamilienhäusern voran zu treiben, wird so auf die veränderte Altersstruktur der Gesellschaft reagiert, gemeinsames städ-tisches Leben für alle ermöglicht, sorgsamer mit Energie umgegangen und der Separierung und Isolierung bestimmter Bevölkerungsgruppen entgegen gearbei-tet – was im übrigen auch volkswirtschaftlich vernünftiger ist als kostspielige Heime und Verwahrlosung in Gettos. Mit öffentlich geförderter Beschäftigung, aber auch durch kommunale Investitio-nen in die soziale und kulturelle Infrastruktur werden gleichzeitig Arbeitsplätze geschaffen, die regionale (Bau-)Wirtschaft gefördert und etwas für ein solidari-sches und gerechtes Zusammenleben in der Gemeinschaft getan.

Wir schlagen im einzelnen vor: · Ausbau der öffentlichen Kinder- und Kleinkindbetreuung · Einrichtung von Gemeinschaftsküchen, Reparatur- und Werkzeugbörsen · Förderung von generationenübergreifenden und ökologischen Wohn- und Lebensprojekten · Gestaltung öffentlicher Gebäude, Straßen und Grünanlagen nach Gesichts-punkten solidarischen und kostenlosen Miteinanders · Gesundheitsläden und kostenlose Gesundheitsberatung · Förderung von freien Trägern und sozialen Projekten (u.a. die unabhängige Sozialberatung durch die ALSO) · Freier Eintritt in öffentliche Einrichtungen und freie Fahrt in allen öffentli-chen Verkehrsmitteln für Menschen mit geringem Einkommen

(ALSO-Entwurf, 07.12.2005)

EingangsReferate (zuletzt geändert am 2011-02-17 11:04:11 durch ThomasWaldmann)